Einsatzleitungen im Bevölkerungsschutz streben danach, „vor der Lage“ zu sein – doch was bedeutet das genau? Prof. Dr. Dominic Gißler von der Akkon Hochschule erklärt, wie proaktives Handeln, Zeitvorteile und methodisches Denken in Szenarien dazu beitragen, chaotische Situationen zu meistern. Erfahren Sie, warum subjektive Einschätzungen oft trügen und wie objektive Methoden wie Zeitstrahlen und Gantt-Diagramme die Einsatzführung revolutionieren können.
Vor der Lage sein: Methoden und Zeitvorteile für eine effektive Einsatzführung im Bevölkerungsschutz
Einsatzleitungen in der Gefahrenabwehr und im Katastrophenschutz streben landläufig danach, „vor der Lage“ zu sein. Damit ist in etwa gemeint, gewisse Entwicklungen vorherzusehen, um proaktiv, weitsichtig und vorbereitend agieren zu können. Im Umkehrschluss will man nicht von Entwicklungen überrascht werden und zu kurzfristigen Reaktionen gezwungen zu sein. „Die Formel, ‚Agieren versus Reagieren‘ weist in dieselbe Richtung. ‚Vor die Lage kommen‘ kann man aus Steuerungssicht als proaktives Agieren verstehen, um ungünstige Entwicklungen durch gezielte Maßnahmen zu vermeiden“, erklärt Prof. Dr. rer. sec. Dominic Gißler, Professor für Führung im Bevölkerungsschutz an der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin. Aus einer zeitlichen Sicht kann man das „vor der Lage sein“ verstehen als das frühzeitige Erkennen notwendig werdender Maßnahmen, um diese vorbereiten zu können.
Wie kann man „vor der Lage sein“ beurteilen?
Einsatzleitungen haben den Anspruch, nicht überrascht zu werden und „vor der Lage zu sein.“ Dies wird gerade auch in Übungen von Stäben in strukturierten Nachbesprechungen als Gütemerkmal herangezogen. Aus Trainingssicht ergibt sich an einem solchen Maßstab bzw. Bewertungskriterium die Anforderung, das „vor der Lage sein“ messen zu können. Dies kann qualitativ in Worten oder gar quantitativ in Zahlen erfolgen. Aus Ausbildungssicht folgt daraus unmittelbar der Anspruch, dass in Ausbildungen, Trainings und Übungen Mitgliedern von Einsatzleitungen beigebracht wird, „wie“ sie sich vor die Lage arbeiten können.
Was steckt hinter „vor der Lage sein“?
Das „vor der Lage zu sein“ ist ein subjektiver Zustand. Prof. Dr. Gißler erklärt: „Nüchtern betrachtet ist es nichts weiter als ein individuelles Gefühl, das stark mit folgenden Faktoren zusammenhängen dürfte: Empfindet die Führungsperson die Situation als geordnet? Glaubt sie einen Überblick zu haben? Wird die Situation als nicht (mehr) chaotisch empfunden? Sind Entwicklungen wenig dynamisch, bzw. haben sie an Dynamik verloren? Ist ganz allgemein ein anfänglicher Druck geschwunden und sind keine kurzfristigen Reaktionen (mehr) notwendig?” Klar ist, dass ein reines Streben aus methodischer Sicht ausreicht, um „wirklich“ proaktiv unterwegs zu sein.
Weckt falsche Erwartungshaltungen
Beim „vornedran-kommen“ kann man etwas gewinnen oder aufholen. Beim „vorne bleiben“ kann man etwas verspielen – nämlich sachliche Vorteile oder zeitliche Vorsprünge. Das Konstrukt bezeichnet also einen Vorher-Nachher-Vergleich. Allerdings wohnt ihm ein fundamentaler Konstruktionsfehler inne. Allein schon durch das Fortschreiten der Zeit wird die Erwartungshaltung geweckt, dass man „ja langsam mal vor der Lage sein müsste“. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass Wahrnehmungsfehler dazu führen können, dass die Führungsperson gewissermaßen aus Selbstschutz glaubt, „vor der Lage zu sein“ – obwohl von außen betrachtet jedoch gerade mögliche Vorteile oder Vorsprünge vergeben werden. Zusammengefasst ist das „vor der Lage sein“ aus psychologischer Sicht eine subjektive Einschätzung der Führungsperson, die eine gewisse Fehleranfälligkeit hat.
Methodischer Ansatz
In der Ausbildung, im Training, bei der Beurteilung von Übungen und Einsätzen sollten subjektive Einschätzungen vermieden werden. „Wie weit“ man vor der Lage war und ob dies „gut“ oder „nicht ausreichend“ war, wird von Stäben und Übungsleitungen immer wieder unterschiedlich gesehen. „Ein objektives Maß sind Zeitvorteile. Diese können in Tagen, Stunden oder gar Minuten gemessen werden. Es kann beurteilt werden, ob notwendige Maßnahmen, wie eine Evakuierung, in diesem Zeitraum noch machbar wären. Methodisch gesehen kann dazu auf einen Zeitstrahl rückwärts geplant werden. Vielschichtige Einsätze kann man dazu in Gantt-Diagrammen darstellen. Damit werden Zeitpuffer sichtbar. Wenn Maßnahmen sich dann aus zeitlicher Sicht nicht realisieren lassen, war die Einsatzleitung in diesem Punkt objektiv nicht vor der Lage. Die Erarbeitung von Zeitvorteilen mit zugehörigen Methoden ist daher ein Ausbildungsansatz und gleichzeitig ein Beurteilungsschema,“ erklärt Prof. Dr. Gißler, der zugehörige Werkzeuge in einem Buch zusammengestellt hat.

Zeitvorteile als Alternativbegriff
Wäre es daher also besser, nicht mehr vom „vor die Lage kommen“ zu sprechen? Redewendungen können nicht ad hoc aus einem Begriffsrepertoire gestrichen werden, gerade auch weil der Begriff üblich ist. Dennoch empfiehlt Prof. Dr. Gißler, dass anstelle von „vor die Lage kommen“ durch Reflexion wenigstens das „Erarbeiten von Zeitvorteilen“ beigestellt werden sollte: „Wie schaffen wir es, vor die Lage zu kommen?“ „Indem wir bei A einen Zeitvorteil gegenüber der Ausbreitung des Feuers herausholen und bei B intern schneller werden!“
Denken in Szenarien als Lösung
Um überhaupt Zeitvorteile erarbeiten bzw. „vor die Lage kommen“ zu können, ist es essenziell, in Szenarien zu denken: Dabei müssen zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten Handlungsoptionen des Einsatzes gegenübergestellt und deren Aus-/Fern-/und Wechsel-Wirkungen unter Beachtung der Zeitlichkeit antizipiert werden. Um das Konzept anwenden zu können, bedarf es daher zwingend der Vermittlung von Methodenkenntnissen wie Zeitstrahlen, Szenariotrichter, Gantt-Diagrammen, Rückwärtsplanung und Tools für Optionsvergleiche. “In diesen Kompetenzen liegt der Schlüssel für eine wirksame Einsatzführung. So angewendet eröffnet die Redewendung ‚vor die Lage kommen‘ den Zugang zum zukunftsorientierten Denken in Szenarien”, fasst Prof. Dr. Gißler seine Empfehlung zusammen.
Text: BKS Report







